Interview mit Prof. Dr. med. Thomas Klingebiel, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main und Mitglied im Medizinischen Beirat der DKMS Stiftung Leben Spenden.
Der Kinderarzt und Onkologe Prof. Thomas Klingebiel hat das vorbildliche pädiatrische Stammzelltransplantationszentrum Frankfurt aufgebaut und ist Experte für Blutkrebserkrankungen im Kindesalter.
Blutkrebs ist die häufigste bösartige Erkrankung bei Kindern. Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 1800 bis 2000 Kinder an Krebs, ungefähr ein Drittel ist von einer Leukämie betroffen. Positive Entwicklung: kleine Patienten in Deutschland haben so hohe Überlebensraten wie nirgendwo sonst auf der Welt. Das berichten Forscher einer Studie*, die die Daten von rund 90.000 Kindern aus 53 Ländern ausgewertet haben. Deutschland schnitt im internationalen Vergleich am besten ab: Hier überleben durchschnittlich 92 von 100 Kindern mit lymphatischer Leukämie. Akute Lymphatische Leukämien (ALL) sind die häufigsten Blutkrebsformen von Kindern. Am zweithäufigsten bei Kindern tritt die Akute Myeloische Leukämie (AML) auf. Auch hier ist Deutschland führend, was die Behandlung betrifft: Im Schnitt überleben 78 Prozent der Kinder mindestens die ersten fünf Jahren nach Diagnose.
Herr Prof. Klingebiel, einer aktuellen Studie* zufolge ist die Überlebensrate für Akute Lymphatische Leukämien (ALL) und Akute Myeloische Leukämien (AML) in vielen Ländern der Welt von 1995 bis 2009 gestiegen. Kinder in Deutschland, die an Blutkrebs erkrankt sind, haben dabei die besten Überlebenschancen. Woran liegt das?
Es stimmt – die Überlebenschancen für Kinder mit Blutkrebs waren bei uns noch nie so hoch. Das Verhältnis der Neuerkrankungen von Kindern mit ALL oder AML beträgt rund 1:6, wobei die Heilungschancen bei ALL am höchsten sind. Zum Glück hat sich aber in den vergangenen 15 Jahren auch bei der AML die Gesamtüberlebensrate deutlich erhöht. Das ist absolut erfreulich. Es zeigt, dass wir schon vor langer Zeit den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir arbeiten hier in Deutschland bereits seit über 40 Jahren sehr diszipliniert zusammen, haben Therapieelemente systematisch erforscht und fortlaufend wichtige klinischen Studien entwickelt. Das führt jetzt – gemeinsam mit anderen Verbesserungen – zu positiven Effekten.
Welche Verbesserungen meinen Sie?
Wir haben heute ganz klare Konzepte und Strukturen und sehr hohe Standards in der Behandlung von Leukämiepatienten. Es gibt zum Beispiel dezidierte Erkenntnisse aus konventionellen Primärstudien und Transplantationsstudien und deshalb wissen wir zum Beispiel sehr genau, wann eine allogene Stammzelltransplantation ihren Sinn hat. Ein entscheidender Fortschritt ist auch, dass sich die Nebenwirkungsrate von Stammzelltransplantationen deutlich verbessert hat und die Mortalität inzwischen auf unter zehn Prozent gesenkt werden konnte. Das war vor einigen Jahren mit einer Mortalitätsrate von rund 30 bis rund 50 Prozent noch ganz anders. Hintergrund ist die Optimierung der Spenderauswahl, zum Beispiel durch hochauflösende Typisierung. Das hat zu einer eindeutigen Verbesserung geführt. Wir haben in Deutschland ein System, wo man rasch sehr gut typisierte und verfügbare Spender findet – auch dank der DKMS. Außerdem besitzen wir in Deutschland seit 30 Jahren ein flächendeckendes Register, das eine solide Datengrundlage schafft. Man kann sagen: Wir haben hier ein System, das auf Kooperation, Disziplin und systematischer Weiterentwicklung fußt – zum Wohle unserer Patienten.
Wie sieht diese Kooperation konkret aus?
Wir schauen uns zum Beispiel in speziellen pädiatrisch-onkologischen Zentren, die über besondere Qualitätsauflagen verfügen und die es in Deutschland seit mehr als zehn Jahren gibt, jeden einzelnen Fall ganz individuell an – danach wird die Therapie für jeden einzelnen Patienten genau geplant und im Detail festgelegt. Denn unser Ziel ist es, für jeden die bestmögliche Therapie zu entwickeln. Über 95 Prozent unserer kleinen Patienten mit ALL und AML werden deshalb inzwischen innerhalb klinischer Therapiestudien behandelt.
Was war denn der Ursprung dieser insgesamt sehr positiven Entwicklung?
In Deutschland wurde bereits im Jahr 1970 die erste Studie zur Behandlung von ALL gestartet – mit dem Ergebnis, sofort mit einer intensiven Therapie zu beginnen (der sogenannten Vier-Mittel-Therapie), um resistente Zellen gar nicht erst wachsen zu lassen. Das war damals ein revolutionäres Konzept. Die Ergebnisse nach sechs Jahren waren so überzeugend, dass sich dieses Verfahren rasch durchgesetzt hat. Nach dieser initialen Überzeugung in Deutschland haben sich gute Kooperationen ergeben. Zum Beispiel hat sich die BFM-Studiengruppe (Berlin, Frankfurt Münster), an der auch unsere Klinik beteiligt ist, weltweit ausgedehnt und diese Therapie aufgegriffen.
Nach wie vor gibt es aber noch Schattenseiten. Warum ist die Heilungschance bei ALL von Kindern unter einem Lebensjahr so viel geringer als bei den 1-4-Jährigen und den 4-9-Jährigen?
Das ist leider eine biologische Tatsache. Säuglingsleukämien sind biologisch sehr stark zu unterscheiden von anderen Leukämien, die im späteren Lebensalter auftreten. Sie sind leider einfach bösartiger. Bessere Ergebnisse konnten wir durch Stammzelltransplantationen erreichen.
Sie selbst beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit der Weiterentwicklung der Stammzelltransplantation im Kindesalter, insbesondere der frühzeitigen Erkennung von Rezidiven. Was hat sich in diesem Bereich zum Positiven verändert und was muss sich Ihrer Meinung nach noch verbessern?
Wir haben in der Vergangenheit mit klinischen Studien den Einsatz von Medikamenten optimiert. Wir konnten zudem zeigen, dass allogene und Geschwistertransplantationen bei einer ALL gleich gute Ergebnisse erzielen. Das setzen wir dann ein, wenn die konventionelle Therapie versagt. Das trifft auch auf die AML zu, wo wir mit der Stammzelltransplantation bei Rezidiven ein gutes Verfahren anbieten können.
Auf die Zukunft gesehen, gibt es noch viele spannende Herausforderungen: Wir sind dabei, in Therapien und klinischen Studien Antikörper oder so genannte „small molecules“ einzubauen und neue Medikamente für die Zukunft zu entwickeln. Und wir widmen uns neuen genetischen Verfahren zur Diagnostik – denn je risikoadaptierter wir behandeln, umso besser ist das Ergebnis. Das heißt, je präziser wir Risikogruppen unterscheiden können, umso besser und zielgenauer können wir behandeln. Dabei geht es nicht unbedingt nur um „mehr“ Therapie und neue Medikamente, sondern um den besten Ansatz.
Wie wichtig ist in ihrem Bereich die Vernetzung mit anderen nationalen und internationalen Experten der pädiatrischen Onkologie und der Wissenstransfer?
Vernetzung und Wissenstransfer ist ganz entscheidend: Die inzwischen internationale BFM-Studiengruppe überträgt ihr Wissen weltweit und viele Länder kooperieren bereits, zum Beispiel Ozeanien, Chile und Japan, auch viele osteuropäische Länder. In den afrikanischen Ländern haben wir nach wie vor ein Problem. Es gibt zwar auch Wissenstransfer in die so genannten low-income countries, aber eine pädiatrische Onkologie muss immer auf eine funktionierende Basis-Gesundheitsversorgung aufsetzen. Dazu gehören viele Faktoren wie Grundversorgung, vernünftige Diagnostik, Basishygiene. Das ist nicht ohne weiteres exportierbar. Die ambulanten Strukturen sind oft schwierig. Da können und müssen wir noch besser werden im Transfer
Zum Abschluss eine persönliche Frage: Was bedeutet Ihnen Ihr Beruf?
Als Arzt und Onkologe habe ich eine der aufregendsten Entwicklungsperioden der Medizin auf diesem Gebiet erlebt. Aus einer nicht heilbaren Krankheit konnten wir innerhalb der vergangenen Jahrzehnte mit dem Einsatz und der guten Kooperation von vielen Beteiligten, vor allem aber Dank klinischer Studien und Studiennetzwerken, in vielen Fällen eine heilbare Krankheit machen. Heute zu sehen, welche Erfolge wir erreichen konnten und wie viele Kinder weiterleben dürfen, ist ein Glücksfall in meinem eigenen beruflichen Leben.
*Worldwide comparison of survival from childhood leukaemia for 1995–2009, by subtype, age, and sex (CONCORD-2): a population-based study of individual data for 89 828 children from 198 registries in 53 countries