Marc Frangipane ist Journalist und hat sich mit seiner autobiografischen Erzählung "Loslassen" mit der Leukämieerkrankung seiner Mutter auseinandergesetzt, die zu ihrem Tod führte. Einen Auszug daraus teilt er mit uns in seinem Blogbeitrag.
Alles begann im März 2017: Ein Husten, der einfach nicht weggehen wollte. „Ist bestimmt eine harmlose Erkältung, Du kannst ja mal zum Arzt gehen. Sicherheitshalber.“ Das rate ich meiner Mutter am Telefon. Ihr Hausarzt verschreibt ihr Medikamente, doch der Husten bleibt. Einige Wochen später wird das Blut meiner Mutter untersucht. Der Befund ist eindeutig. Meine Mutter ist an akuter myeloischer Leukämie erkrankt, einer besonders aggressiven Form.
Die Diagnose ist für uns alle in der Familie ein Schock: Schwere Krankheiten bekamen doch immer nur andere. So denkt man ja häufig, auch ich habe das unbewusst gedacht. Ich habe viel gelesen, mich informiert, mich mit der Krankheit auseinandergesetzt. Meine Mutter bekommt eine Chemo, danach ist sie leukämiefrei.
Doch nach nur drei Monaten der nächste Schock: Bei einer routinemäßigen Nachsorgeuntersuchung werden wieder Leukämiezellen im Blut gefunden. Nun ist klar: Die einzige Chance den Blutkrebs zu besiegen, ist eine Stammzelltransplantation. Meine Mutter muss wieder in die Klinik. Damit eine Transplantation durchgeführt werden kann, muss die Leukämie mit einer erneuten Chemo aber erstmal „zurückgedrängt“ werden.
Doch anders als beim ersten Mal schlägt die Therapie nicht mehr an.
Und jetzt? Mein Eindruck: Die Ärztinnen und Ärzte wissen nicht mehr weiter. Ratlos, hoffnungslos, schlaflos. Ich liege nachts im Bett und kann nicht einschlafen, lasse mir Schlaftabletten verschreiben, telefoniere mit anderen Unikliniken. Setze mich mit dem Gedanken auseinander, dass meine Mutter den Kampf gegen den Blutkrebs verlieren könnte. Versuche mit einigen Freunden und Kolleginnen auf der Arbeit darüber zu sprechen. Mit einigen gelingt das gut, mit anderen weniger: „Das ist ja alles so schlimm, ich möchte darüber gar nicht mehr wissen!“, bekomme ich zu hören. Schwere Krankheiten bekommen eben ja immer nur andere. Und mit Betroffenen darüber reden – besser nicht. Das belastet dann doch zu sehr. Das war mein Eindruck. Häufig, sehr häufig sogar, bleibe ich mit meinen Ängsten und Sorgen allein. Viele Freunde suchen Licht und Leichtigkeit, nicht Schatten und Schwere. Ich mache viel Sport, fordere meinen Körper intensiv. Und merke: Das tut mir gut. In Zeiten, in denen man vor Sorgen fast erstarrt.
Und dann: Ein Wunder. So kommt es mir vor. Mit einem neu zugelassenen Medikament kann die Leukämie zurückgedrängt werden. Und noch eine gute Nachricht. Ein „genetischer Zwilling“ meiner Mutter wird gefunden: Ihre Schwester. Auch ich habe mich bei der DKMS als Spender registrieren lassen. Es war so unfassbar einfach. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, das nicht schon viel früher getan zu haben. Immer vorgenommen, immer aufgeschoben, nie gemacht. Bis jetzt.
Die Stammzelltransplantation verläuft erfolgreich. So oft es geht, besuche ich meine Mutter in der Medizinischen Hochschule Hannover. Auf Station 79.
Die Schleuse, der lange Gang, der große Infusionsständer neben ihrem Krankenbett, all das habe ich noch immer vor Augen. Und den Zustand meiner Mutter: wie schwach sie nach dem Eingriff ist. Bei einem Besuch zwei Wochen nach der Transplantation hake ich sie unter und gehe mit ihr über den langen Flur von Station 79, neben uns rollt der Infusionsständer. Im Zeitlupentempo. Die eigene Mutter, die immer so stark war, jetzt so schwach zu sehen, auch dieses Bild bleibt in meiner Erinnerung- neben ganz vielen anderen, sehr schönen.
Einen Monat später kann meine Mutter die Klinik verlassen und kämpft sich zurück ins Leben, in ihr „zweites Leben“ nach der Transplantation. Nicht mal ein halbes Jahr später werden im Blut wieder Leukämiezellen gefunden. Ein Rezidiv, so nennen es die Ärzte. Was das bedeutet, sagen sie nicht. Ich ahne es. Der Feind ist zurück, noch stärker als die Male zuvor. Meine Mutter verliert den Kampf gegen den Blutkrebs, sie stirbt vier Wochen später. Zu Hause. In ihrem Wohnzimmer.
Ich habe alles aufgeschrieben: Meine Gefühle, meine Gedanken, meine Ängste. Und auch meine Wut. Wie ich die Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten empfunden habe, was mir gutgetan hat – und was weniger.
Ich glaube, es ist gut, auch schwierige und belastende Zeiten zu teilen. Anderen das Gefühl zu geben: „Ich kann mir vorstellen, wie Du Dich gerade fühlst.“ Auch wenn jede Krankheit anders verläuft, bin ich mir sicher, dass jede und jeder in ähnlichen Situationen sich irgendwo wiederfinden wird.
Über vieles in meinem Leben denke ich nun anders. Manche Freundschaften sind mir wichtiger geworden, manche weniger wichtig. Und vor allem weiß ich, was mir wichtig ist.