Wie gehen Patienten damit um, wenn sie an Blutkrebs erkranken? Was fühlen sie, was sind ihre Ängste und Hoffnungen? Wir haben mit einem Patienten gesprochen, der uns erzählt hat, wer und was ihm in dieser schwierigen Zeit geholfen hat.
Am Anfang steht eine Schockdiagnose: Blutkrebs. Ein schwerwiegender Einschnitt ins Leben. Psychoonkologen sprechen auch von einem „Sturz aus der Wirklichkeit“. Für viele betroffene Patienten gibt es oft nur einen Ausweg, der erneut mit großen Ängsten verbunden ist: eine Stammzelltransplantation. Doch wie meistern Patienten diese Herausforderung – körperlich und mental? Welche Fragen und Sorgen plagen sie? Was macht ihnen Mut? Wie finden sie ins Leben zurück?
In Deutschland finden pro Jahr etwa 3.000 Transplantationen mit verwandten und unverwandten Spendern statt. Es ist eines der komplexesten Therapieverfahren der modernen Medizin und eine risikoreiche Herausforderung für Patienten. Der an Blutkrebs verstorbene Politiker Guido Westerwelle hat seine Angst vor einer Stammzelltransplantation in seinem berührenden Buch „Zwischen zwei Leben – Von Liebe, Tod und Zuversicht“ so beschrieben: „Um eine Chance zu haben, den Krebs in mir zu besiegen, werde ich an den Rand des Abgrunds gebracht. Ich soll also fast sterben, um wahrscheinlich zu überleben. Eine merkwürdige Logik.“
Doch was macht die Behandlung psychisch mit den Betroffenen? Ängste, depressive Verstimmungen, massive Erschöpfungszustände, Überforderung, Gefühle von Verunsicherung und Hilflosigkeit – das sind ganz normale Reaktionen.
Bei Nils Haarhues (36), Uhrmacher aus Oldenburg, war es in eigenen Worten „kurz vor knapp“, als er 2013 ins Klinikum Oldenburg eingewiesen wurde. Monatelang hatten ihm starke Bauchschmerzen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit und geschwollene Lymphknoten zu schaffen gemacht, ehe die Diagnose auf Umwegen endlich feststand: chronisch-myeloische Leukämie. „Und ich dachte, ich sei nur platt von Wacken“, erinnert sich der Metalfan, der das mehrtägige Musikfestival besucht hatte. Nun war er plötzlich sterbenskrank, eine massive Blastenkrise, die Ärzte sagten: Wir transplantieren Sie sofort.
„Ich bin dann da völlig unaufgeklärt rein ins Krankenhaus, sah das Krankenzimmer mit Schleuse. Was ist das? Ein Sterbezimmer? Ich wusste nichts mehr. Ich bin in ein riesengroßes Loch gefallen und war nur noch fertig mit der Welt.“
Todesangst ist eine sehr große Angst, sie ist etwas völlig anderes als jede andere Angst im Leben.
Schnell fing Nils an, sich intensiv mit seiner Krankheit zu beschäftigen – und sich an der Organisation einer großen Registrierungsaktion der DKMS für ihn selbst zu beteiligen. „Das hat mir unheimlich viel Kraft gegeben und ich konnte am Tag selbst sogar vor Ort mit dabei sein.“
Viel über die Erkrankung zu wissen bedeutet für zahlreiche Patienten: Sie haben noch Kontrolle über das, was im Krankenhaus passiert, sie können mit den Ärzten detailliert über die Therapie reden. Das gibt Sicherheit. Andere wiederum fühlen sich durch zu viele Informationen überfordert und wünschen sich einen Arzt, der ohne große Rücksprache mit ihnen alles regelt.
„Ich habe meine Ängste buchstäblich verdrängt und mir in einem Deal mit mir selbst geschworen: Ich beschäftige mich erst mit Dingen, wenn sie auch eintreten.“ Völlig raus aus dem gewohnten Alltag und Beruf – ein komisches Gefühl zunächst. „Aber ich musste so viel klären, zum Beispiel mit der Berufsgenossenschaft, ob meine Krankheit sich eventuell berufsbedingt entwickelt haben könnte. Dazu Dinge regeln wie Berufsunfähigkeitsversicherung, Autofinanzierung … es war so viel Bürokratie.“
Die Transplantation am 4. Dezember 2013 um 15 Uhr vergisst er nie. Jeden Tag das Warten darauf, ob die Leukozyten wieder anwachsen. Erst an Tag 11 ist es so weit. Das war am 15. Dezember. „Ab da hatte ich nur noch eines im Kopf: Ich will Weihnachten zu Hause sein, ich will hier raus.“ Tatsächlich konnte er am 24. Dezember entlassen werden. „Es war komisch zu Hause. Es hat gedauert, in den Alltag zurückzukommen. Ich habe viel mit meinem Sohn gemacht, musste aber noch viel liegen, durfte eigentlich nichts machen. Ich war auch verunsichert von all den Regeln und Verhaltensmaßnahmen, die ich befolgen sollte.“
Einen Psychoonkologen brauchte Nils in dieser Zeit nicht, seine Familie und seine Freunde haben ihm gutgetan – „wobei ich auch einige ausgemustert habe“. „Und ich habe ganz viel über Musik gemacht, viel Musik gehört und mich mit Songtexten identifiziert“, sagt Nils. Und noch eines hat ihn aufgebaut: „Ich hatte Tickets für Wacken 2014 und habe mir gesagt: Da will ich hin. Das hat mich am Leben gehalten.“ Ebenso wie sein kleiner Sohn, den er vor und während der Transplantationsphase vier Wochen gar nicht sehen durfte. „Das war das Schlimmste. Zum Glück konnten wir skypen.“
Der Weg zurück ins Leben und ein neues Lebensglück bedeutet für Nils: den Sommer genießen, Freunde treffen, endlich wieder reisen, auf Konzerte gehen. „Mein erstes Konzert war im Juni 2014 Metallica in Hamburg.“ Ein Jahr nach der Diagnose fängt er wieder an zu arbeiten, stundenweise.
Dann die Trennung von seiner Frau – noch mal ein harter Schnitt, aber nicht abzuwenden. Vielleicht war alles zu viel und eine zu große Belastung für eine junge Familie. Heute genießt er sein Leben nach der Transplantation mit neuer Partnerin und im Bewusstsein, dass es jederzeit Rückschläge geben kann. Eines jedoch weiß Nils: Er kann es wieder schaffen – im festen Vertrauen darauf, dass er schon einmal etwas bewältigt hat, von dem er zunächst glaubte, dass er es vielleicht niemals schaffen würde.
*Eine ungewollte Immunreaktion, bei der Abwehrzellen im Transplantant den Körper des Patienten als fremd erkennen.